Von Gastautor Josef Burker (Koreanologie-Studienvertreter der Universität Wien)
“Nächstes Semester ziehe ich nach Korea.”
“Korea? Ich hoffe du meinst Kärnten…”
Als ich einer Lehrerin meiner Kremser Schule 2015 erzählte, dass ich nächstes Semester von Krems an der Donau nach Seoul / Korea ziehe, war meine (und ihre) Aufregung groß. Es war mein Wunsch ins Ausland zu ziehen und an einer Auslandsschule zu maturieren, sowie eine neue Sprache und Kultur kennenzulernen.

Seoul, Metropole am Han
Korea als Zielland war jedoch rein zufällig. Ich hatte keinen Kontakt mit der Kultur oder mit Ostasien generell, meine Interessen lagen woanders. K-Pop war mir noch völlig fremd, mein einziger Zugang war “Gangnam Style” von Psy und mein Vater, der zu der Zeit in Südkorea seit einem Jahr arbeitete und lebte. Dass ich mit meinem Vater vor meinem Studium leben konnte, trug auch dazu bei, dass ich mich für den Umzug nach Südkorea entschied.
Nach einem Jahr wurde mein Alltag komplett auf den Kopf gestellt: Plötzlich wohnte ich in Itaewon, einem multikulturellen und zentralen Seouler Ort in einer dynamischen Millionenmetropole mit vielen Cafés, Restaurants und Shops. Ich lernte eine mir komplett neue und fremde Sprache: Koreanisch. Neben meiner Schule, der DSSI (Deutsche Schule Seoul International), beschloss ich für mich als Ziel noch ein TOPIK Zertifikat zu absolvieren, da ich sehr schnell bemerkte, dass ich viel Spaß am Koreanisch Lernen hatte. Durch das sporadische Lesen von Autokennzeichen, Bus- und U-Bahn Stationen prägte ich mir Hangeul, das koreanische Alphabet, schnell ein.
Meine Schule
Mit diesem Artikel möchte ich mehr auf meine Schule sowie meinen Schulalltag eingehen. Viele fragen mich mit Erstaunen, wie eine deutsche Schule in Ostasien funktioniert, woher unsere Lehrer_innen kommen, welche Sprache gesprochen wird und überhaupt: “Wie ist es so, in Korea zur Schule zu gehen?”

Die Deutsche Schule in Hannam-dong
Die DSSI ist eine kleine Schule. Vom Kindergarten bis hin zur Maturaklasse gab es zu meiner Zeit um die 150 Schüler_innen. Die Zahl ändert sich von Jahr zu Jahr, da viele Familien kommen und gehen. Tatsächlich bleibt die Mehrzahl der Schüler_innen und Lehrer_innen nicht länger als ein paar Jahre, die Fluktuation ist daher hoch. Die Schule spielt eine große Rolle rund um den “Deutschen Club Seoul”. Der Deutsche Club Seoul ist, wie der Name preisgibt, eine Art Expat-Vernetzungsgruppe, die neben der Schule auch noch mit zwei deutschen Kirchen in Seoul, dem Goethe Institut, der Botschaft sowie mit deutschsprachigen Firmen vernetzt ist. Während so eine Gruppe gerade für neu ankommende deutschsprachige Familien sicher sehr nützlich sein kann, muss ich dennoch anmerken, dass diese Bubble klarerweise sehr in sich geschlossen und verzweigt war. Kontakte außerhalb der Bubble waren oft schwieriger zu finden. Die Community veranstaltete auch einen in der Gegend bekannten Weihnachtsmarkt mit Glühwein, zu dem viele Koreaner_innen außerhalb der Community und der Schule kamen, wie auch regelmäßig stattfindende Flohmärkte. Mir war es jedoch immer wichtig in Seoul anzukommen, die Sprache zu lernen und so vieles wie möglich an Kultur und Land mitzunehmen. Deswegen war ich nie groß in der deutschen Community involviert, war in zwei Jahren nur einmal beim Österreich-Stammtisch und versuchte – so gut es neben der Schule ging – Kontakte in meinem Bezirk und außerhalb der Schule zu knüpfen.
Mit Abiturstress war das jedoch nicht immer leicht. Das Abitur wird dort seit 2010 angeboten. Mit um die 35 Lehrkräften war das Verhältnis von Schüler-zu-Lehrer sehr günstig, wobei der Schwierigkeitsgrad im Vergleich zu Österreich meines Empfindens nach deutlich höher ausfiel. Unsere Lehrer_innen kamen hauptsächlich aus Deutschland und sind entweder über den deutschen Staat oder lokal angestellt gewesen. Ich landete in der größten Klasse mit 17 Personen, Parallelklassen gab es keine.
Um ein sehr bekanntes Klischee vorweg aufzubrechen: Nein, in Korea bin ich nicht täglich bis 23 Uhr am Lernen gewesen und war bei weitem nicht demselben Druck ausgesetzt, wie Schüler_innen im koreanischen Bildungssystem. Tatsächlich orientiert sich die die DSSI an einer Variante des deutschen Bildungssystems mit der Deutschen Internationalen Abiturprüfung als Abschlussprüfung. Mit großen Augen blickte damals Personal der Uni Wien, wie ich mich inskribierte: Eine Bestätigung der Reifeprüfung aus Südkorea mit dem Hinweis, dass ich Bildungsinländer sei? Eine besondere Erfahrung bringt wohl besondere Situationen mit sich.
Matura oder Korea-Abitur?
Im Vergleich zu Österreich hat sich mein Arbeits- und Lernpensum deutlich erhöht: In jedem Schulfach hatte ich vier Schularbeiten im Jahr und plötzlich ein Politikfach wie Geschichte halb auf Englisch (tatsächlich waren die Klausuren auch 50%-50% Englisch und Deutsch). An nur einem Tag hatte ich keinen Nachmittagsunterricht bis 16:00. Auf einmal war ich in einem anderen Notensystem: Statt Ziffernnoten benutzten wir ein Punktesystem von 1 bis 15, ab 5 war man positiv. Alle Punkte, die man in den letzten zwei Jahren bis zum Abitur gesammelt hatte, zählten mit zur Endnote und faktisch zum Abiturdurchschnitt. In Mathe musste ich nicht maturieren, was für mich ein sehr großes Plus war. Im Unterschied zu inländischen Schulen nahmen wir im Geschichtsunterricht ein ganzes Semester den Koreakrieg durch. Der enorme Lernaufwand für die Schule (vor allem in der Abiturphase, wo ich locker um die sieben Wochen gelernt habe) war am Anfang, neben dem ganzen Umstieg, sehr fordernd. Es hat mir aber auch den Umstieg auf meinen Jusstudium in Wien erleichtert, wobei sich natürlich die Verhältnisse deutlich änderten: Mit 17 in einer Klasse zu plötzlich mehreren Hunderten im Audimax.
Dazu hatte ich Koreanisch als Fremdsprache sowie Jura als Wahlfach belegt und wurde in der 11. Klasse zum Schulsprecher gewählt. Durch diese Erfahrung konnte ich meine Schule, wie auch das Umfeld in dem ich lebte, in allen ihren Facetten gut kennenlernen und konnte vieles mitnehmen und mitgestalten, wie zum Beispiel die Arbeitsgruppe Inklusivität oder diverse Schulveranstaltungen. Die Überschaubarkeit der Schulgemeinschaft trug zu einer familiären Stimmung bei – jeder kannte jeden, neue Gesichter bemerkte man sofort – jedoch führte dies auch hin und wieder zu Konflikten. Es war anfangs durchaus eine Herausforderung, aber ich konnte aus dieser Erfahrung viel für mich mitnehmen. Tatsächlich bin ich auch wegen der Schule bis heute sehr interessiert an Vertretungsarbeit geworden. Unser Abiturmotto war “Korean Abi – Excellence in Fight”, eine Anspielung auf die nationale Fluggesellschaft und deren Motto: “Korean Air – Excellence in Flight”. Das Abitur war auch ein Kampf mit vielen Hürden, welches wir aber rückblickend betrachtet gut meisterten. Im Unterschied zu Österreich konnte ich in Geschichte schriftlich maturieren und ich musste keine VWA schreiben, hatte dafür aber eine „Präsentationsprüfung“ anhand einer Forschungsfrage.
In meiner Klasse hatten von 17 Personen vier keinen „direkten“ Bezug zu Korea, sondern zogen aufgrund der elterlichen Berufslaufbahn nach Korea. Die größte Gruppe machten koreanisch-deutsche Schüler_innen aus, also Personen, die ein koreanisches und ein deutsches Elternteil haben. Aber auch koreanische Schüler_innen, die über ihre koreanische Familie einen entfernten Bezug zu Deutschland (zum Beispiel Gyopos) und Deutsch schon immer als Bildungssprache hatten, besuchten die Schule.

Koreanische Mahlzeit nach der Schule
Nach dem Unterricht gingen wir oft zum nächsten koreanischen Restaurant Bibimbap, Kimchi-Jjigae und viel Banchan essen. Danach fuhren wir öfter nach Myeongdong einkaufen, das Mariahilferstraße-Äquivalent in Seoul, oder nach Gangnam, der wohlhabendste Bezirk Seouls, um dort entlang mondänster Architektur zu spazieren. Auch das Fortgehen kam trotz Schulstress nicht zu kurz: Mit Soju, einer günstigen koreanischen Reisspirituose und zwei Partyvierteln, Itaewon und Hongdae, waren wir gut versorgt.
Mein Alltag
Nun zur Frage, wie sich mein Alltag im Vergleich zu Österreich unterschied. Ganz grundlegend war natürlich der besondere Umstieg auf eine technologisch hochentwickelte Millionenstadt. Das Transportsystem ist grandios, Korea verfügt über den weltweit schnellsten Zugang zum Internet und die vielfältigen Möglichkeiten nach der Schule mit Freund_innen was zu unternehmen war großartig. Man hatte immer etwas Neues und Spannendes zum Ausprobieren: Nach der Schule bin ich mit Freund_innen zum Noraebang (einer koreanischen Karaoke-Bar) gegangen oder nach Hongdae oder Itaewon in erstklassige Restaurants oder in der Mittagspause auf ein leckeres Mittagessen zu Paris Baguette, einer bekannten koreanischen Fusionskette. Außerdem unternahmen wir auch verschiedene Ausflüge in andere koreanische Städte, wie zum Beispiel Busan, Jeonju und Gunsan. Der ganze flair der Stadt war klarerweise ein anderer.
Der Bezirk, in dem ich wohnte, wuchs mir sehr ans Herz. Itaewon ist eine recht bekannte Gegend im Yongsan-Bezirk, die sehr multikulturell und divers ist. Mit türkischen, thailändischen, vietnamesischen, chinesischen, japanischen, amerikanischen, mexikanischen und natürlich koreanischen Restaurants erlebten wir eine große Vielfalt an Essensmöglichkeiten, die ich so noch nie praktisch vor der Haustür hatte. Itaewon verfügte neben dem damals noch bestehenden „Itaewon Land“, einem großen Jjimjilbang (eine koreanische Sauna), über viele verschiedene Läden, den amerikanischen Militärstützpunkt Yongsan Garrison mit 20.000 amerikanischen Soldaten und einer Moschee. Also ein sehr multikultureller Bezirk in einem Land, das sonst 97% homogen ist, mit dem historischen amerikanischen Stützpunkt.

Itaewon, mein neues Zuhause
Itaewon verfügte auch über zahlreiche Kulturangebote: Gegenüber von meinem damaligen Zuhause war das bekannte Ryu Gwansun-Denkmal, der koreanischen Unabhängigkeitsaktivistin gegen die japanische Kolonialherrschaft, wie in der Nähe die große und bekannte koreanische Kriegsgedenkstätte und das Militärmuseum. Auch der Namsan Tower befand sich ganz in unserer Nähe, in dessen naheliegenden Namsan Park ich mit meiner besten Freundin oft spazieren war.
Unsere Schule befand sich in Hannam-dong, einer sehr wohlhabenden, zentralen Gegend in Seoul. Dort wohnten ebenfalls viele Expats und firmenangehörige Familien, sowie Diplomat_innen. Auch K-Pop Idols wie BTS wohnen dort. Unser Schulweg dauerte von Itaewon nach Hannam zu Fuß zirka 40 Minuten, mit drei Hügeln und oft vielen Zwischenstopps. Tatsächlich gab es auf meinem Schulweg drei verschiedene Paris Baguettes, was sich in viel Geld für Kaffee Lattés und Strawberry Bread übersetzte.
Itaewon, wie Hannam-dong, werden auch oft als Bubble kritisiert wird, da sich dort eine große ausländische und wohlhabende inländische Community etabliert hatten und nicht “das wahre” Korea repräsentieren. Familien, die durch den Arbeitgeber nach Südkorea ziehen und in Bezirken wie Itaewon oder Hannam-dong landen, wo viele sehr wohlhabende koreanische Familien wohnen, erleben daher eine sehr glamouröse Seite Seouls. Uns war klar, dass wir in Seoul allgemein ein sehr privilegiertes Leben genießen durften, mit einem Filter lebten und so soziale Konflikte ausblenden konnten. So zum Beispiel die hohe Suizidrate unter Jugendlichen aufgrund des enormen Leistungsdrucks oder die durch „Parasite“ sehr gut dargestellte soziale Kluft zwischen Arm und Reich. Dass am Ende des Films eine deutschsprachige Familie in die Villa einzieht fühlte sich sehr ironisch an.
Seit der Matura

Seoul zwischen Geschichte und Zukunft
Seoul hat als Stadt so viel zu bieten mit so vielen verschiedenen Möglichkeiten, sich kulturell und geschichtlich weiterzubilden, dass ich nie meine Entscheidung bereut habe, nach Südkorea zu ziehen. Das Land, die Stadt und die Schule haben mich geprägt und nach zwei Jahren fühlte sich Seoul wie ein zweites Zuhause an. Es waren nicht nur die Menschen, die für mich die Erfahrung so schön gemacht haben, sondern auch maßgeblich die Stadt selbst. Deswegen blieb ich auch nach der Matura den ganzen Sommer noch in Seoul und habe neben einem Praktikum auch freiwillig bei Teach North Korean Refugees (TNKR), einer gemeinnützigen NGO, mich engagiert. Mein Visum lief daraufhin ebenfalls ab. Nach insgesamt zwei Jahren zog ich nach Wien. Mir gab die Schule, wie auch das Land die Leidenschaft, die ich heute für Koreawissenschaften habe. Deswegen beschloss ich neben meinem Hauptstudium auch Koreanologie zu studieren, da ich mich weiterhin in die Sprache, Geschichte und Kultur vertiefen möchte und hoffe, bald wieder Seoul besuchen zu können. .