Der österreichische Kamerapionier Hans Theyer beschreibt in der Zeitung „Mein Film“: Heft 164 des Jahres 1929 seine Reise von Japan nach Korea und China und erzählt über eine Kinovorstellung im Seoul der 1900er Jahre.
Erinnerungen eines Kameramannes VII.
Von HANS THAYER
Kinovorstellung in Korea —Ein sympathisches Nachtquartier
So reich an interessanten Eindrücken und Erlebnissen unsere Filmreise durch China auch war, so kann gleichzeitig doch nicht geleugnet werden, daß sie an europäische Nerven ziemlich hohe Anforderungen stellte. Ich will ohne weiteres zugeben, daß moderne, nach englischem Muster eingerichtete sanitäre Anlagen im Vergleich zu der jahrtausendealten, geistigen Kultur Chinas wenig bedeuten. Aber wenn man an ihr Vorhandensein gewöhnt ist, macht sich ihr absoluter Mangel doch recht unangenehm fühlbar. Ich weiß nicht, wie es in den, chinesischen Städten heute mit der Kanalisation bestellt ist, vor 20 Jahren kannte man dergleichen jedenfalls noch nicht. Statt dessen waren an jeder Straßenecke große Bottiche aufgestellt, die dazu dienten, alles aufzunehmen, was der Mensch im ewigen Kreislauf der Natur rückzuerstatten genötigt ist. Diese Bottiche waren tagaus-tagein von tausenden Fliegen und Moskitos übersät und es war nur eine Frage der Windstärke und -richtung, in welchem Maße uns der Dunst, der ihnen entströmte, zugetragen wurde. An manchen Tagen war er auch ganz deutlich untermengt von dem Verwesungsgeruch der Begräbnisstätten, jenen großen Totenfeldern vor der Stadt, wo die Verstorbenen nicht begraben, sondern einfach nebeneinander geschichtet wurden. Diese gänzliche Außerachtlassung der primitivsten Gebote der Hygiene führte unaufhörlich zu schweren Epidemien. Oft wurden in wenigen Tagen Tausende an der Pest, an der Cholera, an schwarzen Blattern dahingerafft. Spitalshilfe gab es nicht. Die Kranken lagen buchstäblich auf der Straße. Aussätzige, mit gräßlich verstümmelten Gesichtern ( und Händen, liefen uns nach und versuchten, uns zu berühren. Es bereitete diesen unglückseligsten aller Geschöpfe eine Art Genugtuung, uns Grauen einzuflößen. Wir warfen ihnen Almosen zu, das Geld ging durch ihre Finger und kam auf seinem Kreislauf gewiss bald wieder in die Hände Gesunder, wohl auch in unsere Hände zurück…
Unter diesen Umständen erschien uns der kleine Abstecher, den wir nach Japan und Korea unternahmen, wie eine Erholungsreise. Denn in diesen Ländern herrschten in hygienischer Hinsicht unvergleichlich bessere Zustände.
Wir machten zunächst in Nagasaki Station. Das Straßenbild dieser Stadt bot zu jener Zeit, da die Japaner erst allmählich europäische Kleidung anzunehmen begannen, einen ungemein drolligen Anblick. Man sah Männer, die zum japanischen Kimono einen schwarzen steifen Hut trugen, und andere, die in europäischen Unterhosen und Ruderleibchen einherstolzierten, in der Meinung, es sei ein kompletter Anzug. Am seltsamsten aber nahmen sich die japanischen Frauen aus. In ihrer typischen Haltung: das Köpfchen ein wenig zur Seite gelegt, den Oberkörper vorgeneigt, die Hände über der Brust gekreuzt und angetan mit unmöglichen, unmodernen europäischen Kleidern und riesigen Schuhen, an den von Sandalen verwöhnten, ein wenig breitgetretenen Füßchen. Es wäre gewiß nicht zu verstehen, daß sie ihre schöne, bequeme Nationaltracht diesem häßlichen stillosen Aufzug opferten, wenn an den wunderhübschen, japanischen Kimonos nicht ein böser Hadern gehangen hätte. Es existierte nämlich eine Art Gesetz, wonach Frauen von einer bestimmten Altersgrenze aufwärts eine bestimmte Art von Kimono zu tragen hatten, so daß jedermann über das Alter der betreffenden Damen schon von weitem ziemlich genau unterrichtet war. Sicherlich werden es nun alle europäischen Schwestern begreiflich finden, daß die Japanerinnen jenseits der „Grenze“ mit tausend Freuden ihren verräterischen Kimono auch gegen das scheußlichste europäische Kleid einzutauschen bereit waren…
Durch die im russisch-japanischen Krieg zu so verhängnisvoller Berühmtheit gelangte Straße von Tsushima gelangten wir in die Hafenstadt Fusan und von dort mit einer entzückenden, blitzsauberen Kleinbahn nach Söul, der Hauptstadt von Korea. In den Waggons gab es richtige europäische Bänke, aber unsere Reisegefährten hockten nach japanischer Sitte mit gekreuzten Beinen darauf, wie sonst zu ebener Erde. In jeder Station stiegen sie allesamt aus, wuschen sich Gesicht und Hände in bereitstehenden Becken mit fließendem heißem Wasser und füllten ihre Teekannen von neuem, die sie als wichtigstes Lebensrequisit stets bei sich trugen. In Korea wurde die auffallende Reinlichkeit der Bevölkerung durch die Landestracht sehr gefördert. Die Männer waren in lange, weiße, gestärkte Leinenkittel gekleidet, die sauber zu erhalten, die Hauptbeschäftigung der Frauen bildete. Man sah die bedauernswerten Koreanerinnen fast tagein-tag- aus nur waschen und bügeln. Zu den steifen, weißen Hemdkitteln trugen die Männer auf dem zu einem Knoten hochgesteckten langen Haar kleine, schwarze Roßhaarzylinder, was einen sehr feierlichen und gravitätischen Eindruck machte.

Koreanerin, die mit einer Pfanne voller glühender Kohle Wäsche bügelt
Die Koreaner sind ein sehr liebenswürdiger, zugänglicher Menschenschlag und ermöglichten uns ohne weiteres eine Reihe sehr interessanter Aufnahmen. Wir photographierten das Leben in den Straßen, ihre Sitten und religiösen Riten, ihre Arbeit und ihre Nationaltänze.
In Söul hatten wir auch ein heiteres Filmerlebnis. Wir wohnten dort einer Kinovorstellung bei, die wohl die originellste unseres Lebens war. Unser Hotelier besaß nämlich gleichzeitig die Vertretung der Firma Pathe und hatte in einem großen Bretterverschlag ein Kino eingerichtet. Natürlich verabsäumten wir es nicht, einer Vorstellung bei beizuwohnen. Der Kinobesuch in Korea ließ augenscheinlich nichts zu wünschen übrig. Der große Raum war bis ‚auf das letzte Plätzchen besetzt. Allerdings ausschließlich mit Männern. Auf dem großen Podium produzierten sich vorerst Tänzer und Saitenspieler. Dann gelangte ein Max-Linder-Film zur Vorführung. Man verstand es damals freilich noch nicht, einen Film international, das heißt, in aller Welt verständlich, zu halten. Die Titel wurden nur in die wichtigsten Weltsprachen übersetzt und waren beispielsweise hier französisch. Mein Freund Adelhart und ich waren zweifellos die einzigen im Publikum, die sie verstanden. Zudem war sicherlich auch die Komik der grotesken Vorgänge den Koreanern größtenteils unbegreiflich. Das konnten wir schon daran merken, daß sie der Vorführung mit völligem, unbeweglichem Ernst folgten. Erst als sie uns beide über Max Binders köstliche Einfälle und sein drolliges Spiel lachen hörten, wandten sie sich nach uns um und lachten mit. Sie saßen für den Rest, das Abends von der Leinwand ab- und uns zugewendet und nahmen unser Lachen sozusagen immer als Stichwort, um herzlich miteinzustimmen. Zuletzt unterhielten wir uns über das Publikum noch bedeutend besser, als über den Film …
Leider nahm unser Aufenthalt in Korea ein jähes Ende. Es brachen Unruhen aus, die Bevölkerung begann gegen die japanische Vorherrschaft zu revoltieren. Und man riet uns, in unserem eigenen Interesse mit unseren Apparaten schleunigst abzudampfen. […]
Quelle: ANNO – Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften