Von Monika Klages und Richard Kubitzki
Eine wesentliche Maßnahme in Deutschland zur Verlangsamung der Ausbreitung der Corona-Krankheit ist die Reduzierung von Kontakten. Jede Bürgerin oder jeder Bürger darf zeitgleich nur mit einer Person, die nicht aus dem eigenen Haushalt stammt, Kontakt haben. Eine weitere Maßnahme ist das Ausweiten des Sicherheitsabstandes auf 2 Meter beim Einkaufen. Diese Aktionen haben sich aber letztlich als nicht sehr erfolgreich erwiesen. Die Zahlen der Corona-Infizierten steigen in Deutschland weiter. So sind nach Angaben des Robert-Koch-Institutes, des führenden deutschen Virologie-Instituts, mit Stand vom 6. April 95.391 Personen infiziert und 1.434 bereits verstorben. Und die Zahlen steigen weiter an.
Eine Überlegung der Bundesregierung ist – laut einem vertraulichen Papier des Innenministeriums mit dem Namen „Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen“ – die Corona-Pandemie mit massiv ausgeweiteten Tests und dem konsequenten Isolieren von infizierten Menschen einzudämmen. Die Bürgerinnen und Bürger sollen den dazu nötigen Rachenabstrich selbst erledigen, um das medizinische Personal vor Ansteckungen zu schützen. Untersuchungen sollen in neuartigen Drive-by- oder Kabinen-Teststationen durchgeführt werden. Alle positiv Getesteten müssen anschließend isoliert werden, entweder zu Hause oder in einer Quarantäne-Anlage. Ähnliche Maßnahmen wurden in Südkorea bereits erfolgreich eingesetzt. Dort ist es der Regierung gelungen, die Ausbreitung des Virus stark zu verlangsamen, ohne das öffentliche Leben zum Stillstand zu bringen.
Auch bei der Auswertung von Handy-Daten zur Eindämmung der Corona-Krise soll Korea zum Vorbild werden. Die koreanische Regierung kann die Bewegungen von infizierten Personen anhand von Standortinformationen des Smartphone nachvollziehen. Gesundheitsbehörde geben die gesammelten Daten in einer Form weiter, die Bürger wissen lässt, in welchem Geschäft oder Restaurant sich ein COVID-19-Patient aufgehalten hat. Hat eine Person den gleichen Ort wie ein Patient besucht, wird sie direkt unter Quarantäne gestellt und auf das Virus hin getestet. Dies verringert das Risiko einer Gruppeninfektion erheblich.
Der Gesundheitsminister Jens Spahn wollte dies auch in Deutschland so durchführen. Allerdings ist dieser Versuch wegen des Datenschutzes stark umstritten und der Gesundheitsminister steht in der Kritik. Es zeichnet sich aber dennoch eine Lösung des Problems ab. Bereits einmal hat die Deutsche Telekom dem RKI anonymisierte Daten überlassen, um zu klären, wie viele Telefone sich in welchem Gebiet bewegt haben. Das RKI erhoffte sich davon Erkenntnisse, ob die bisherigen Maßnahmen wie die angesprochenen Kontaktreduzierungen funktionieren. Die Weitergabe solcher Informationen ist nach Aussage von Datenschützern rechtskonform. Nicht rechtskonform wäre aber die Weitergabe von personalisierten Daten, mit denen festgestellt werden kann, welche Person sich zu welcher Zeit an welchem Ort aufgehalten hat.
Daher wird nun europaweit vorgeschlagen, eine App auf freiwilliger Basis zu installieren, mit deren Hilfe anonymisierte Daten von Infizierten an mögliche Kontaktpersonen gesendet werden können. Diese Variante wäre mit den aktuellen Datenschutzbestimmungen konform. Acht europäische Länder beteiligen sich an dem Versuch. Ein erster Test mit 50 Soldaten ist gerade unter Leitung des RKI und des bekannten Fraunhofer-Instituts in Berlin angelaufen.
Auch jenseits der bisher ergriffenen Maßnahmen könnte Südkorea Vorbilder für Deutschland liefern. Viele in Deutschland lebende Koreaner sind erstaunt über die Diskussionen um die Frage der persönlichen Freiheit und die Sorge um Vereinsamung angesichts der seit dem 23. März in Deutschland geltenden Kontaktbeschränkungen. „Meine Eltern und meine Großmutter in Gyeongju, einer kleineren Stadt im Südosten Südkoreas, erleben diese Krise ohne Angst,“ sagt Yuhui Kim, Pastorin in einer koreanischen Gemeinde in Köln. „Sie vertrauen auf die Maßnahmen der koreanischen Gesundheitsorganisation (Korea Centers for Disease Control and Prevention, KCDC).“ Diese Organisation wurde 2003 im Zuge der SARS-Infektionswelle (SARS: Severe Acute Respiratory Syndrome) von der damaligen Regierung gegründet. Sie bietet landesweit eine engmaschige Betreuung für Infizierte an und organisiert die Quarantäne und Behandlung der Patienten. Proteste gegen dieses Vorgehen gibt es kaum, denn die Betroffenen verstehen ihre Isolation als Dienst an der Gesellschaft.
Derselbe Gemeinschaftssinn bestimmt auch das Verhalten der Menschen außerhalb der Quarantäne. Das Tragen von Masken zum Schutz der Allgemeinheit und die Vermeidung von Menschansammlungen ist in Südkorea eine Selbstverständlichkeit. Während man hier in Deutschland noch erstaunte oder gar ängstliche Blicke erntet, wenn man mit Mundschutz in den Supermarkt geht, ist es in Seoul genau umgekehrt. Ein Ausgangsverbot, wie es inzwischen in vielen Ländern Europas und einigen Regionen Deutschlands gibt, ist in Südkorea unnötig, weil hier die Notwendigkeit zur sozialen Zurückhaltung in viel größerem Umfang akzeptiert wird.
Auch in Deutschland verfügt man über einen ausgeprägten Gemeinschaftssinn, der sich gerade jetzt in unzähligen Initiativen etwa zur Nachbarschaftshilfe und zur Unterstützung kleiner Geschäfte und Organisationen zeigt. Zudem ist kulturelle Offenheit in Deutschland weit verbreitet und die Bereitschaft, von anderen Gesellschaften zu lernen, ein Gut, das man hier zu Recht hoch schätzt. Was uns jedoch in beeindruckender Weise von Südkorea vorgelebt wird, ist die Fähigkeit, eine Krise durch gemeinsames Anpacken zu bewältigen und dabei auf die Kraft der Demokratie und der öffentlichen Instanzen zu vertrauen. Jungeun Lee, Trainerin für interkulturelle Kommunikation und Koreanischlehrerin an der Volkshochschule Köln und seit knapp 30 Jahren in Deutschland, bringt es auf den Punkt: „Die Stärke der Koreaner liegt im Hier und Jetzt. Gibt es ein Problem, packen wir es gemeinsam an, ohne lange zu fragen oder zu diskutieren. Hauptsache, es geht vorwärts.“ So habe man das Elend nach dem Koreakrieg und den dramatischen gesellschaftlichen Wandel unter dem Wirtschaftsprogramm zu Zeiten der Diktatur überwunden. Auch die Wirtschafts- und Finanzkrise 1997-98 sei nur dank des kollektiven Einsatzes von Arbeitskraft und Privatvermögen über alle sozialen Schichten hinweg möglich gewesen.
Im Gegensatz dazu, so Lee, scheinen sich die Menschen in Deutschland selbst im Weg zu stehen, weil sie ihren Entscheidungen oft langwierige Debatten vorausschicken, die immer auch von einem gewissen Misstrauen gegenüber staatlichen Organen geprägt ist. „Die Menschen im heutigen Südkorea haben sich ihre Demokratie selbst erstritten und haben daher ein großes Vertrauen in sie und ihre Institutionen“, erklärt sie. Der offene und ehrliche Umgang mit Daten werde daher als Zeichen der Stärke ihres Rechtsstaats angesehen. Diese Haltung trifft in Deutschland zumeist auf Skepsis. Dabei übersehen wir, dass es unsere Demokratie stärken könnte, indem wir staatliche Maßnahmen zunächst unterstützen – und sie nach dem Ende der Krise gemeinsam auf den Prüfstand stellen. Auch hierfür könnte Südkorea ein Vorbild sein.
Monika Klages lehrt englische Linguistik an der Universität zu Köln. Richard Kubitzki unterrichtet am Joseph-DuMont-Berufskolleg Politik, Biologie und Sport.