Von Gastautorin Elif Koca (Koreanologie-Studentin der Universität Wien)
Und was kommt Morgen? Und wenn der Morgen schon wieder vergangen ist?
Das diesjährige Seoul International Writer’s Festival widmet sich heuer eben diesen Fragen im Rahmen des Themas “Morgen schreiben”, oder auf Koreanisch 내일을 쓰다. 15 koreanische und 10 internationale SchriftstellerInnen zeigen, wie sie über die Ambivalenz des Kommenden und des Vergangenen schreiben. Erstmals online reicht das Festival dieses Jahr weit über die Grenzen Seouls und erlaubt auch von zu Hause aus den Texten renommierter Schriftsteller und Schriftstellerinnen mit Tee und im Pyjama zu lauschen.
„Bevor wir einschlafen, werden wir oft
besorgt und ängstlich darüber, was der Morgen
mit sich bringen kann. Gleichzeitig freuen wir uns
auf die bevorstehenden Abenteuer. Wenn wir
jedoch aufwachen, stellen wir fest, dass morgen
wieder außerhalb unserer Reichweite ist.
Wie anders ist unser Leben heute
von dem Morgen, den wir uns gestern vorgestellt haben?
Werden wir jemals in der Lage sein, das Leben von
morgen zu erreichen? Die Literatur von heute
ist das Morgen von gestern. Was webt es aus all
den bedrohlichen Vorahnungen und bizarren und doch
bezaubernden Träumen von gestern?
Morgen und in den folgenden Tagen,werden wir
unseren eigenen Gesichtern begegnen, die uns
unbekannt vorkommen. Wir werden mit Schriftstellern
aus allen Teilen der Welt interagieren, die diese
seltsamen neuen Gesichter in mehreren Sprachen
vermittelt haben.
Sie sind herzlich zur Teilnahme beim
Seoul International Writers ‚Festival 2020 eingeladen.“
– Begrüßungsgedicht, übersetzt von Elif Koca
Was ist das Seoul International Writer’s Festival?
2006 fand das Festival, organisiert von Literaturtranslationsinstitut Koreas, erstmals statt und ist seitdem stetig am Wachsen. Inzwischen nahmen über 217 Autoren und Autorinnen aus 54 verschiedenen Ländern teil und trafen sich in Seoul, aber auch in Yeoungju-si, Jejudo, oder Paju. Der Fokus liegt klar auf einer globalen Literaturszene, die sich in Korea vernetzt und sowohl der Leserschaft, als auch den Schreibenden erlaubt, Literatur aus aller Welt zu erleben. Das ist ebenso an den alljährlichen Themen erkennbar. Von Themen wie Empathie, bis hin zu “1000 Spiegel uns reflektierend” steht jedes Jahr ein neuer Schwerpunkt im Mittelpunkt. Das Spannende hierbei ist erleben zu dürfen, was Literatur so alles vermag und darüber hinaus alles zu verändern vermag.
Vor allem im diesjährigen Programm kommt eben jene Kraft der Literatur zum Vorschein. 2020 zeigte wie viel sich von einem Tag auf den anderen verändern kann, aber auch wie Tage sich endlos erstrecken, sich nur im Kreis zu drehen scheinen, ohne, dass tatsächlich dieser neue Morgen kommt. Literatur erlaubt es dem nicht nur zu entkommen, sondern diese Gefühle, Tage und Veränderungen auch besser zu verstehen. Besonders dieses Jahr spielt das Festival mit eben dieser Kraft der Literatur.
Programmhighlights
Im Großen und Ganzen lässt sich das Programm in 4 Abschnitte unterteilen: Der Eröffnungsrede, Vormittagslesungen, Diskussionen am Abend, und der Schlussrede. Die teilnehmenden Autorinnen und Autoren repräsentieren allesamt die Kraft einer modernen, globalen Literatur, die schon längst transnational ist. Cho Haejin und Chigozie Obioma, um die Autoren der ersten Lesung am 3. 11. zu nennen, schreiben über die Tragödie, was es heißt eine Minderheit zu sein, und über die Schönheit der kleinen Momente.
Den Anfang aber macht Hwang Sok-young am zweiten November mit einer Rede über das diesjährige Motto. Als einer der einflussreichsten und bekanntesten koreanischen Autoren der Gegenwart, der so eindringlich wie kaum ein anderer Schriftsteller Themen wie Heimat und den Verlust desselben behandelt, ist Hwang perfekt geeignet für die Frage, was es heißt den Morgen zu schreiben, beziehungsweise schreiben zu müssen.

Schriftsteller Hwang Sok-yong. Quelle: https://koreanliteraturenow.com/interviews/taking-pulse-korean-society-novelist-hwang-sok-yong
Weil Hwang weiß, wie man über Empathie schreibt, ohne kitschig zu klingen, und wie man über Mord, Krieg und Hunger schreibt, ohne moralisch zu appellieren, bin ich vor allem auf seine Rede gespannt, in der es um die Zukunft der zeitgenössischen Literatur geht. Über seine Rede hinaus ist der Roman “Der Gast” zu empfehlen, der, auf wahrer Begebenheit basierend, vom Koreakrieg erzählt.
Das Hauptprogramm, das aus täglichen Diskussionen und Lesungen besteht, ist eine Mischung aus einem Fokus auf den Akt des Schreibens und der Literatur und aus lebensphilosophischen Blickwinkeln auf die Thematik.
Bei den Diskussionen treffen interkulturelle, persönliche und literarische Perspektiven aufeinander und ergänzen einander. “Du musst nach vorne kriechen”, zum Beispiel, ist das Thema, das am 3.11 von Kim Thúy, Sou Linne Baik und Kang Seungeun beleuchtet wird. Kim Thúy, geboren in Vietnam, war Schneiderin, Übersetzerin, Anwältin und Besitzerin eines Restaurants bevor sie zur Literatur kroch und bereits mit ihrem Debutroman unzählige Preise gewann. Kim schreibt einfühlsam, poetisch und zart, zugleich aber treffend, weshalb ihr Blickwinkel auf das Thema sehr anregend zu sein verspricht. Besonders zu empfehlen ist ihr Roman “Ru”, in welchem die Grenzen zwischen Poetik und Prosa ineinander
verschwimmen.

Schriftstellerin Kim Thúy. Quelle: https://www.siwf.or.kr/bbs/board.php?bo_table=new_artists_en&wr_id=9
Die Lesung, auf die ich mich besonders freue, ist die des Dichters Lee Moon-Jae. Bei Lee finden Alltag, Essen, Physik, Philosophie und Liebe einander und trotzdem sind seine Gedichte leicht, nichts wird hier der Schwere überlassen und so schafft er trotz – oder gerade aufgrund dieser Simplizität – Umwelt, Natur und eine bessere Zukunft zu imaginieren.
Treffend ist daher vor Allem das Motto der Lesung dieses Tages: Der Garten der morgigen Sprache.

Poet Lee Moon-jae. Quelle: https://www.siwf.or.kr/bbs/board.php?bo_table=new_artists_en&wr_id=18
Den Abschluss bilden Chung Serang und Paolo Giordano. Chung Serang ist eine aufsteigende junge Science-Fiction und Fantasy Autorin. Sie ist nicht nur die jüngste koreanische Autorin, deren Werk ins Japanische übersetzt wurde, ihr Roman “Schulkrankenschwester An Eunyoung” wurde auch als Netflix-Serie adaptiert, die derzeit auch in Europa zu sehen ist.
Paolo Giordana ist Autor des weltweiten Bestsellers “Die Einsamkeit der Primzahlen”. Zudem verfasste der Physiker und Autor einen Text über Covid-19 mit dem Titel “Wie Ansteckung funktioniert”, welcher bereits in über 30 Sprachen übersetzt wurde. Im Mittelpunkt der Schlussrede der beiden AutorInnen steht das Thema “Unsere zerstörte Welt”. Abschließend widmen sich diese zwei JungautorInnen der Frage nach dem Morgen nach einer globalen Pandemie.

Schriftstellerin Chung Serang. Quelle: https://www.siwf.or.kr/bbs/board.php?bo_table=new_artists_en&wr_id=20

Autor Paolo Giordano. Quelle: https://www.siwf.or.kr/bbs/board.php?bo_table=new_artists_en&wr_id=2
Erster Einblick in die Texte der Autorinnen und Autoren
Auf dem Youtube Channel des LTI Koreas findet man bereits erste Lesungen der Autorinnen und Autoren. Alle Lesungen sind ins Englische und Koreanische übersetzt und bieten einen Einblick in die Schriften der Schreibenden. Aufgeteilt sind diese in Novel Readings, also Romanlesungen, und Poetry Readings, bei denen Dichterinnen und Dichter zu Wort kommen. Amüsant ist bei diesen “Einführungen” das Fehlen von Einführungen und Übergängen. So gehen die Texte und Sprachen ineinander über. Nach 35 Minuten entsteht so eine ganz neue Geschichte, in der koreanische ProtagonistInnen auf französische treffen und gemeinsam japanische Schulen besuchen. Sobald das Festival beginnt, werden auch E-Books zu den einzelnen Schriftstellerinnen und Schriftstellern zur Verfügung gestellt.
Wie man sich anmeldet
Die Anmeldung funktioniert in zwei Schritten. Zunächst sucht man sich auf der Website ein Programm aus. Zu beachten ist hier allein der Zeitunterschied. Für die Registrierung wird man zu Naver weitergeleitet. Falls man bereits einen Naver Account hat, ist der Abschluss der Anmeldung sehr einfach, ansonsten muss man sich einfach zusätzlich auch auf Naver registrieren. Diese zusätzliche Registrierung kann etwas mühsam erscheinen, da man die Videos auch im Nachhinein auf der Website anschauen kann. Wer sich trotzdem registriert, hat die Chance eine Goodie Bag des Seoul International Writer’s Festivals zu gewinnen!

Seoul International Writer’s Festival Goodie Bag. Quelle: https://booking.naver.com/booking/12/bizes/423251/items/3623741
Besonders in Zeiten wie diesen wird der italienische Philosoph Antonio Gramsci gerne zitiert: „Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann.” Umso wichtiger ist es, die Literatur sprechen zu lassen, um den Morgen, der stets verspricht das Neue zu bringen, nicht nur kommen zu lassen, sondern um ihn auch schreiben zu können.