Von Gastautorin Miriam de Goederen (Studentin der Vergleichenden Literaturwissenschaft und Gender Studies an der Universität Wien)
Letzte Woche erschien die lang ersehnte deutsche Übersetzung des koreanischen Romans Kim Jiyoung, geboren 1982, geschrieben von Cho Namjoo.
Wir haben uns den Bestseller genauer für euch angesehen und erzählen euch in dieser Review etwas zum Inhalt und zur Autorin und gehen außerdem näher darauf ein, wie dieses Buch zu einem weltweiten Erfolg wurde.
Die Geschichte von Kim Jiyoung
Kim Jiyoung ist 33 Jahre alt und hat ihr ganzes Leben nach den Regeln und Wünschen anderer gelebt. Bis jetzt. Eines Tages wehrt sich etwas in ihr und sie stürzt in eine Psychose: Jiyoung beginnt, unbewusst in die Rolle von ihr nahestehenden Frauen zu schlüpfen und in deren Stimme zu sprechen. In diesen Episoden spricht Jiyoung frei aus, was sie beschäftigt, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. So sagt sie etwa in der Stimme ihrer verstorbenen Freundin zu ihrem Ehemann: „Daehyon, weißt du, Jiyoung macht gerade eine schwere Zeit durch. […] Du solltest ihr öfter einmal sagen, dass sie ihre Sache gut macht. Sag ihr, du seist dankbar für die Mühe, die sie sich gibt.“
Um nachvollziehen zu können, wie es zu diesen psychischen Symptomen kommen konnte, holt die Autorin Cho Nam-joo weit aus. In mehreren Rückblenden erzählt sie Jiyoungs gesamtes Leben nach, angefangen bei ihrer Geburt, die an sich schon unerwünscht war – denn ihre Familie hatte sich eigentlich einen Sohn erhofft. Jiyoung wächst auf mit einem Selbstverständnis dafür, dass ihr jüngerer Bruder stets bevorzugt wird. Während er verhätschelt wird, müssen sich Jiyoung und ihre ältere Schwester alles teilen und Haushaltsaufgaben übernehmen.

Koreanisches Buchcover
In der Schule lernt sie, dass es normal ist, dass die Schuluniformen der Mädchen strenger kontrolliert werden und die Buben bei der Mittagspause mehr Zeit zum Essen bekommen.
Bei Jobinterviews werden ihr und ihren Mitbewerberinnen sexistische Fragen gestellt und auch später als Angestellte in einer großen Firma bekommt sie zu spüren, wie ungleich Männer und Frauen behandelt werden – angefangen dabei, dass so gut wie keine Frauen in Führungspositionen zu finden sind bis zu unpassenden sexuellen Kommentaren von Vorgesetzten bei Geschäftsessen.
Mit 30 heiratet Jiyoung und als sie schwanger wird, gibt sie schließlich ihren Job auf, da ihr Mann mehr verdient und sie sich eine Kinderbetreuung kaum leisten könnten.
Ihr Mann arbeitet lange Stunden und Jiyoung muss sich mit einer Wochenbettdepression alleine um ihr Baby kümmern. In dieser schwierigen Zeit stirbt ihre gute Freundin bei der Geburt ihres Kindes und Jiyoung verliert eine starke Bezugsperson. Jiyoung fällt in eine Psychose und die sonst so stille und zurückhaltende Frau findet plötzlich in ihren dissoziativen Episoden die Worte, um sich ihren Mitmenschen gegenüber zu wehren und sich Gehör zu verschaffen.
„Ach, ich möchte auch mit dem Geld meines Mannes im Park herumsitzen und Kaffee trinken … Ein Sch-mama-rotzer.“ – Ein fremder Mann im Park sagt dies zu seinen Kollegen, als er Jiyoung sieht.
Kim Jiyoung ist jede Frau

Die Autorin Cho Nam-joo
Cho Nam-joo erzählt die Biografie einer durchschnittlichen Koreanerin. Die Kraft liegt hier darin, dass sie beim Aufzeigen von Alltagssexismus keineswegs mit dem Zeigefinger rügt und eine deutliche Position einnimmt. Es werden kleine, unauffällige Momente geschildert, wie etwa ein älterer Mann, der Jiyoung beim Geschäftsessen zum Trinken drängt oder ein Lehrer, der einer Schülerin eine Spur zu lange die Hand auf den Arm legt und dabei unter ihren Ärmel fährt.
Cho Nam-joo wählte absichtlich einen in Korea sehr geläufigen Namen für die Hauptperson, um noch deutlicher zu zeigen, dass hier der Alltag einer gewöhnlichen koreanischen Frau geschildert wird. Jiyoung war 1982 der am häufigsten vergebene Vorname und Kim ist der geläufigste Nachname. In einem Interview sagt Cho Nam-joo, dass sie „über die Verzweiflung, die Erschöpfung und die Angst, die wir aus keinem anderen Grund spüren, als dass wir Frauen sind“ schreiben wollte.
„Ich wollte über Dinge schreiben, über die Frauen zuvor nicht sprechen konnten, weil sie als selbstverständlich hingenommen wurden.“ – Cho Nam-joo über ihre Motivation zum Buch.
Nicht nur koreanische Frauen fühlen sich hier verstanden und gesehen, der Roman fasst Themen auf, die weltweit relevant sind und in denen sich alle Frauen wiederfinden können. Die spezifischen Erlebnisse mögen in unterschiedlichen Ländern und deren Kulturen leicht voneinander abweichen, aber jede Frau kennt das dadurch ausgelöste Gefühl der Ohnmacht und die resignierte Verzweiflung, alleine nichts gegen ein gesellschaftlich so verankertes Problem tun zu können. Einen Roman zu lesen, der so sachlich diese oft subtilen und somit leicht zu übersehenden Alltagssexismen auffasst und thematisiert, stärkt den Rücken.
Millionen Bestseller, nicht nur in Korea
In Korea wurde Kim Jiyoung, geboren 1982 zum Bestseller – er verkaufte in den ersten Jahren mehr als eine Million Exemplare, das erreichte in Korea das letzte Mal 2009 ein Roman (Als Mutter verschwand von Shin Kyungsook). Aber auch außerhalb Koreas gewann er schnell an Beliebtheit. Mittlerweile hat sich der Roman weltweit über 2 Millionen Mal verkauft.

Filmplakat zu Kim Jiyoung, born 1982 aus dem Jahr 2019
2019, drei Jahre nach der Buchveröffentlichung, wurde der Roman auch verfilmt, besetzt mit koreanischen Stars wie Jung Yumi und Gong Yoo. Die Film war das Regiedebüt von Kim Doyoung und sorgte für großen Anklang, er verkaufte in den ersten zehn Tagen über zwei Millionen Tickets und verschaffte dem Roman erneute Aufmerksamkeit.
In Österreich konnte der Film aufgrund von COVID-19 nicht in den Kinos ausgestrahlt werden, aber wurde jedoch im Zuge der Koreanischen Filmwoche 2020 gezeigt, die im Dezember mit dem Thema „A Century of Korean Women“ online lief.
2020 erschien das Buch auf Englisch, übersetzt von Jamie Chang und nun im Februar 2021 schließlich auf Deutsch. Die deutsche Übersetzung übernahm Lee Kihyang, die auch bereits Die Vegetarierin von Kang Han übersetzte. Dieser Roman mit ebenfalls feministischen Zügen fand in den Jahren vor Kim Jiyoung, geboren 1982 großen Zuspruch. Beide Romane haben gemein, dass sie die Geschichte von einer stillen Frau erzählen, die ihr ganzes Leben lang nach den Spielregeln gespielt hat und sich plötzlich anfängt, aufzulehnen – zur Verwirrung und teils Entsetzen ihrer Mitmenschen.
Mittlerweile wurde Kim Jiyoung, geboren 1982 in neunzehn Sprachen übersetzt.

Englisches Buchcover
Ein Roman mit harten Fakten
Kim Jiyoung, geboren 1982 ist zwar ein fiktiver Roman, allerdings ist er nicht völlig aus der Luft gegriffen. Immer wieder hinterlegt Cho Nam-joo ihre Aussagen mit Quellen, die direkt im Roman als Fußnoten angegeben werden. So verweist sie etwa auf Statistiken und Artikel, wenn sie Fakten wiedergibt. Gepaart mit dem distanzierten, sachlichen Schreibstil ergibt dies einen Text, der eher einem Bericht ähnelt, als einem Roman. Diese Quellenangaben sind nicht nur für Leser*innen interessant, die weiter nachforschen möchten, sondern verschaffen dem Buch auch ein Maß an Glaubwürdigkeit und Seriosität, das gerade bei feministischen Büchern oft bitter nötig ist. Wie auch in der Geschichte gezeigt wird, ist die Diskriminierung gegen Frauen so alltäglich, dass sie oft gar nicht gesehen wird und in Folge dessen Betroffenen nicht zugehört oder geglaubt wird.
Eine so sachliche Beschäftigung mit dem Thema, verpackt in einen Roman, kann bestimmt die eine oder andere vielversprechende Diskussion ins Rollen bringen. Nicht umsonst wurde das Buch zu einem zentralen Text der koreanischen #MeToo-Bewegung.